In den letzten Monaten kannte man Ottfried Gabriel durch das tägliche Musizieren gegen 17 Uhr auf dem Kirchplatz. Seitdem er mit seiner Frau Elisabeth Gabriel im April 2022 in das Ernst-Berendt-Haus eingezogen ist, war dies zu einer kleinen Tradition geworden.
Traditionen hat Ottfried vielerlei eingeführt. Aber erstmal der Reihe nach.
Ottfried Gabriel ist am 30.10.1935 in Berlin geboren und in Weißensee aufgewachsen.
Er gehörte zu der Generation, die den Zweiten Weltkrieg als Kind hautnah miterlebte. Die Entbehrungen der Kriegszeit haben ihn sehr geprägt.
So war ich schon als Kind sehr begeistert davon, wie man alle Strophen eines Liedes aus dem Gesangbuch auswendig konnte. Wie Ottfried uns erzählte, haben sie in den Bombennächten im Keller gesessen und das Gesangbuch zum Trost und zur Beschäftigung rauf und runter gesungen.
Ebenso berichtete Ottfried aus welchem Grund er ein Instrument gelernt hat: Überall dort, wo ein Posaunenchor spielte (Hochzeiten, Taufen,…), gab es etwas zu essen. So hat Ottfried Gabriel im Februar 1951 seine 71jährige Bläserlaufbahn begonnen.
Wenn man der Überlieferung glauben mag, führte Ottfried das liebe Essen auch das erste Mal zur damaligen Stöcker-Stiftung. Er habe wohl als Gegenleistung für das Kartoffelschälen in der Küche einen warmen Teller Suppe erhalten und durfte den großen Suppenkessel auskratzen.
Wie es damals so war, verließ man mit 14 Jahren die Schule und erlernte einen Beruf. Ottfried wurde Maurer. Allerdings hat er nach dem Abschluss der Lehre nur wenige Monate in diesem Beruf gearbeitet. Stattdessen hat er ab 1954 eine Vollzeitausbildung zum Diakon angeschlossen.
Die politische Entwicklung führte dazu, dass die Ausbildung nicht mehr wie bisher vollständig im Johannesstift bei der dortigen Brüderschaft erfolgen konnte. So pendelten die damaligen Diakonenschüler zwischen der Stöcker-Stiftung in Weißensee und dem Johannesstift hin und her. Die Einsegnung zum Diakon erhielt er am 10.05.1959.
Damit war die Schulzeit aber immer noch nicht vorbei. Ottfried durfte gleich im Anschluss die Kirchenmusikschule Dahme/Mark besuchen und wurde zum C-Kantor ausgebildet. Mit dieser vergleichsweisen kurzen Musikausbildung bekleidete er von 1960 – 1975 das hohe Amt des Posaunenwartes. In dieser Zeit nahm er Kontakt zu verschiedenen Posaunenchören in Ost-Berlin auf und unterstütze ihre Arbeit, er organisierte Bläserrüsten, gestalte die Advents- und Weihnachtsmusik in der Marienkirche u.v.m. Ebenso unterrichtete Ottfried die Diakonenschüler am Blechblasinstrument. Da er kein Auto hatte, wird er wahrscheinlich schon damals die vielen Termine und Ortschaften mit seinem Diamant-Fahrrad angefahren haben. Wer Ottfried aus früheren Tagen kennt, wird ihn in Weißensee oder auch ganz Deutschland mit seinem Fahrrad gesehen haben – barfuß, mal nur mit Lederhose, mit oder ohne Instrument auf dem Rücken. 200km am Tag hat er auch noch als Rentner zurückgelegt.
Während seiner Zeit als Posauenwart heiratete Ottfried und gründete eine Familie. Die Liebe zur Musik hat er auch an seine Kinder und Enkel weitergegeben. So spielen sie u.a. Trompete, Geige und Cello.
Als Posaunenwart hat er hauptberuflich Bläsermusik gemacht, organisiert und angeleitet. Dies änderte sich 1975. Ottfried wurde als Posaunenwart abgelöst und begann in der Stephanus-Stiftung mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, diese Tätigkeit übte er bis zu seinem Ruhestand (1992) aus.
Aber die Bläserei wurde nicht weniger. Auf dem Gelände der Stephanus-Stiftung gab es Diakonenschüler, die ein Blechblasinstrument lernten und ein paar Mitarbeiterkinder. Die Gelegenheit musste doch am Schopfe gepackt werden: Es entstand DER Posaunenchor schlechthin.
Ottfried Gabriel hat diesen Posaunenchor fast 30 Jahre geleitet und geprägt.
Es war kein gewöhnlicher Posaunenchor – Nein: Er war Jugendclub, Christenlehre, lebenspraktischer Unterricht, Abendteuerurlaub und Musikschule zu gleich. In den Gründungsjahren bestand der Chor überwiegend aus Kindern, die dann nach der Schule zum Blasen in die Stiftung kamen. Mittlerweile spielen schon deren Enkel in verschiedenen Posaunenchören. Ottfried machte aus allen Gelegenheiten Bläsereinsätze. Es gab Proben, Altersheimblasen, Geburtstagsständchen, musikalische Begleitung bei Beerdigungen, Gottesdienstbegleitungen, Friedhofsblasen, Wochenendfahrten, Maiblasen…. und die Bläserfahrten.
Ottfried hat in den vielen Jahrzehnten mehr als 200 Kindern und Erwachsen ein Blechblasinstrument beigebracht. Typisch für ihn war: es durfte jeder kommen. Unter seinen Schülern waren Kinder, Rentner, Personen mit geistiger Behinderung, psychisch Erkrankte, blinde und völlig talentfreie Bläser und Bläserinnen. Ottfried hat nie zwischen gut und schlecht unterschieden und stets alle eingebunden.
Auf einer Ferienfahrt mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung hat er alle am Morgen mit seiner Trompete geweckt. Unter diesen Kindern war auch unser Frank Nadler. Frank war so begeistert von dem Instrument, dass er Ottfried über Wochen „nervte“: „Ich will auch blasen lernen!“ Frank bläst heute noch, er kann mehrere Instrumente spielen und im Gegensatz zu anderen Bläserinnen und Bläsern den Violin- und Bassnotenschlüssel lesen.
Fast zu allen Ferienzeiten gab es Bläserfahrten. Mit dem Bläserbus oder dem Fahrrad ging es über das Wochenende ins Umland und in den Ferien bis zur Ostsee hoch. Bis zu drei Wochen haben dann die Bläserinnen und Bläser bei Gastfamilien geschlafen, am Vormittag älteren Menschen ein Ständchen gespielt, am Nachmittag in der Ostsee gebadet und am Abend einen selbstgestalteten Gottesdienst in der Kirche abgehalten. Ottfried war über Jahrzehnte lang die Öffentlichkeitsarbeit der Stephanus-Stiftung schlechthin. In den freien Zeiten wurde viel gespielt. Von Ottfried habe ich Spiele gelernt, die sonst keiner kannte. DAS Bläser-Spiel war Pinochle. Er hat es uns immer als amerikanischen Skat verkauft.
In den vielen Jahren hat Ottfried ungezählte Stunden, Fleiß und Hingabe in diesen Posaunenchor investiert. Dies war nur durch die Unterstützung der Stephanus-Stiftung und einer starken Familie im Hintergrund möglich. Er hat eigentlich Übermenschliches geleistet und sich immer in den Dienst der Sache gestellt. „Gott zu loben, das ist unser Amt.“ war ein Motto von vielen Posaunenchören. Dies hat Ottfried gelebt. Für diese musikalische Verkündigungsarbeit hat er uns Bläserinnen und Bläsern viel gelehrt. Neben der musikalischen Ausbildung sind wir mit Ottfried durch eine Lebensschule gegangen und haben gelernt, uns in einer Gemeinschaft zurecht zu finden und unsere eigenen Bedürfnisse zurück zu stecken. Ottfried hatte einen Plan und auch seine eigenen Vorstellungen und Wege diesen umzusetzen.
Ottfried lebte uns eine Wertschätzung von allen Menschen vor, unabhängig von Bildungsgrad oder Kontostand, und strahlte ein so bedingungsloses Gottvertrauen aus.
Wer bei der nächsten Predigt einmal in Richtung des Posaunenchores lauscht, könnte ein rascheln hören. Der berühmte Predigtbonbon macht seine Runde. Das ist auch so eine Tradition, die Ottfried eingeführt hat.
Dann können wir uns an ihn und die gemeinsamen Erlebnisse erinnern.
Lieber Ottfried, vielen Dank für die gemeinsame Zeit. Mach´s gut!
Verfasser: Friederike Grothe, langjähriges Mitglied des Posaunenchores der Stephanus-Stiftung