Kennen Sie das Gefühl, schon ganz viel erledigt zu haben und trotzdem wird die To-do- Liste nicht kürzer? Und wie viele kennen das Gefühl, von einer scheinbar unsichtbaren Kraft einem irgendwie unbekanntem Ziel zugetrieben zu werden?
Wagen wir ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, diese unsichtbare Kraft wäre nicht mehr da. Bis jetzt war es so - während man die eine Sache macht, ist man schon in Eile und Sorge um die Erledigung der nächsten. Aber wie fühlt sich das an, wenn das nicht mehr so wäre? Wir sprechen heute liebevoll vom Kita-Rente-Syndrom. Seit wir aktiv mit dem Denken angefangen haben, bekommen wir erzählt und vorgelebt, wofür wir etwas tun und was als nächstes kommt. Im Kleinen hangeln wir uns durch unsere täglichen Routinen: Aufstehen, Morgenrituale, Arbeit, Einkauf, Kinder, Abendessen, Bett. Und dann sind da große Stationen des Lebens: Kita, Schule, Ausbildung, Beruf, Familie und dann Rente. Endlich.
Und dann? Ist das das Leben? Von einem zum anderen? Ein Stationslauf? Michael Schumacher weinte bitterlich, als er nach einem weiteren Sieg tatsächlich der erfolgreichste Rennfahrer aller Zeiten war. Aber nicht vor Freude. Ihm wurde in diesem Moment klar, dass es für ihn kein neues „Wohin“ mehr gab.
Vor einiger Zeit wurde in Thailand ein neues buddhistisches Kloster gebaut. Die Arbeiten gingen nur mühsam und schleppend voran. Kurz vor Beginn der Regenzeit wurden sie für dieses Jahr ganz eingestellt. Als ein Besucher den Abt fragte, wie weit die Arbeiten denn seien, sagte dieser nur: „Es ist fertig.“ Damit ließ er den verdutzen Mann zurück. Was er meinte war: Das, was gemacht ist, ist fertig. Ist das nicht ein wohltuender Gedanke für unseren Alltag, bei all den scheinbar endlosen Aufgaben? Es ist fertig, so, wie es ist.
Das, was gemacht ist, ist fertig.
Das Leben ist vielleicht doch kein Stationslauf. Vielleicht ist es ein nie enden wollender Schöpfungsakt, auch mein ganz persönlicher. Wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe, gehe ich, damit er sein Geschäft macht und wir dann wieder zu Hause ankommen. Er geht spazieren, um spazieren zu gehen. Schnüffelt hier, freut sich da über die Begegnung mit einem anderen Hund.
Es gibt kein „Wohin?“ für ihn. Auch kleine Kinder haben diese Art zu leben noch. Diese Erkenntnis traf mich eines Tages – „Wohin will ich eigentlich?“ Und warum immer weg von dem, was ich gerade tue? In diesen Tagen kommen die Bedeutung echter Beziehungen und die Dinge, die uns wirklich wichtig sind, besonders ins Bewusstsein.
Ein Phänomen, das uns im hospizlichen Bereich oft begegnet. Viele kennen das aus ihren Begleitungen. Nimmt man „Herberge“ als eine ursprüngliche Bedeutung von Hospiz, dann ist eine Herberge etwas, in der ich Pause mache, auftanke, vielleicht zurück- und vorblicke und mir über den weiteren Weg klarer werden kann. Natürlich stellt sich auch bei den Begleitungen die existenzielle Frage nach dem „Wohin?“, doch können wir diese beantworten? Es zählt, da zu sein bei dem, was ist, Leben zu leben.
Hat die immer wieder aufbrechende Natur ein „Wohin?“ im Sinn? Sie wird sich entfalten in genau der Zeit, die dafür richtig ist. Wenn Sie in den nächsten Tagen einmal gestresst sind, Sie sich zerrissen und hin- und hergerissen fühlen, dann fragen Sie sich einmal: „Wohin?“ und folgen dem Nachhall. Vielleicht genau für den Augenblick, in dem Sie Ihr Kind nachts müde in den Schlaf singen, das Geschirr von sättigenden Mahlzeiten säubern oder unangenehme Arztbesuche dran sind. Das ist das, was jetzt dran ist. Es ist fertig, so wie es ist. Was wäre das für ein schöner, kurzer und befreiender Dialog: „Wohin? Hierhin.“
Christian Ruffert
Stephanus-Kinderhospizdienst
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