Gespräche statt Verträge

Fotoquelle: Archiv Stephanus

Günter Schabowski (mitte) im Gespräch mit Stiftungsdirektor Werner Braune (rechts). Links auf dem Bild der damalige Oberbürgermeister von Ost-Berlin Erhard Krack – Foto Harald Hauswald, Archiv Stephanus-Stiftung

Die Stephanus-Stiftung als Ort für Begegnungen der Verständigung in der DDR

Vor mehr als 30 Jahren spitzte sich die politische Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) dramatisch zu. Schon beim Evangelischen Kirchentag in Ost-Berlin 1987 sprachen viele ihren Unmut offen aus und die „Kirche von unten“ machte mit öffentlichen Aktionen auf sich aufmerksam. Seit Januar 1988 gingen zunehmend mehr Menschen auf die Straßen und demonstrierten gegen die unterdrückende Machtherrschaft der SED. Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit, die freie Entfaltung von Kunst und Religion sowie den uneingeschränkten Zugang zu Bildung forderten die Demonstranten. Die wenigsten wollten die DDR abschaffen oder sie gar verlassen.

In unterschiedlicher Weise wurde der Stephanus-Stiftung in dieser Zeit eine besondere Rolle zuteil. Bereits seit Kriegsende 1945 war die diakonische Stiftung in Berlin-Weißensee ein Ort, an dem sich unterschiedliche Akteure bei nationalen oder internationalen Tagungen und Bildungsveranstaltungen trafen und miteinander ins Gespräch kamen. Im August 1950 tagte in der zur Stiftung gehörenden „Friedenskirche“ die Generalsynode der Evangelischen Kirche Deutschlands unter dem Thema: „Was kann die Kirche für den Frieden tun?“ und ging als „Weißenseer Friedenssynode“ in die Geschichte ein.

In den frühen 80er Jahren suchten nicht wenige Menschen in der Stephanus-Stiftung Schutz vor Verfolgung und Berufsverbot durch das SED-Regime, unter ihnen der Fotograf Harald Hauswald oder der Künstler Matthias Zágon Hohl-Stein. Viele Ausreisewillige wurden Mitarbeitende auf Zeit. So kamen sie nicht in die Gefahr, als asozial eingestuft zu werden. Pastor Werner Braune war seit 1979 Direktor der Stephanus-Stiftung. Der pragmatische Theologe leitete nicht nur ein diakonisches Unternehmen in der DDR, das Kinder und Erwachsene mit Behinderung betreute und förderte sowie alte Menschen pflegte.

Bei zahlreichen Gelegenheiten war er auch Gastgeber für Treffen von Politikern und Kirchenvertretern aus beiden deutschen Staaten. Gewissermaßen als Brückenbauer nutzte Braune zahlreiche Gelegenheiten, um mit Politikern oder Verwaltungsverantwortlichen in Ost und West ins Gespräch zu kommen, unter ihnen auch hohe Parteifunktionäre wie der Oberbürgermeister von Ostberlin Erhard Krack und der damalige SED-Chef von Ostberlin, Günter Schabowski. Beide besuchten am 24. April 1989 die Stephanus-Stiftung.

Werner Braune erinnert sich: „Bei diesem Besuch ging es mir um Arbeit für Menschen mit Behinderung. Unsere Anlernwerkstatt brauchte Partner, die Arbeitsmöglichkeiten in den staatlichen Betrieben vermitteln konnten. Solche Themen ließen sich nur auf ganz hoher Ebene diskutieren, sonst passierte da nichts.“ Und so führte Braune die SED-Delegation durch die damaligen Arbeitsbereiche der Stephanus-Stiftung und erläuterte ihnen die Situation. Denn seinerzeit waren geschützte diakonische Arbeitsbereiche für Menschen mit Behinderung auch von Arbeitsaufträgen der Volkseigenen Betriebe (VEB) abhängig. Zum Beispiel wurden in der Stephanus-Stiftung Kleinteile für den PKW Trabant zusammenmontiert. Doch wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Situation in der DDR gingen die Aufträge zurück.

Wegen dieser Gespräche und anderer Aktivitäten musste sich Werner Braune nach der Wende mit Vorwürfen auseinandersetzen. „Wir hatten ja nur diese Regierung und ihre Vertreter, andere gab es gerade nicht“, sagt Werner Braune heute. „Wenn wir etwas für die uns anvertrauten Menschen verbessern und verändern wollten, dann ging das nur auf diesem Wege. Gespräche zählten viel mehr als Verträge“, ergänzt Braune. Letztere gab es kaum. Auf Verabredungen in den Gesprächen hingegen konnten sich die Beteiligten weitgehend verlassen.

Aber warum besuchten hochrangige SED-Politiker damals ausgerechnet die Stephanus-Stiftung? Denn einen guten Ruf im Sinne der Regierenden hatte sie eher nicht. Schon lange waren den sozialistischen Machthabern die deutsch-deutschen und internationalen Begegnungen in Weißensee ein Dorn im Auge. Bekannte Persönlichkeiten nutzten eine Berlinreise zu einem Treffen in der Stephanus- Stiftung. Unter ihnen Ernesto Cardinal, der Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland Günter Gaus, Regierungssprecher Klaus Bölling oder im Januar 1989 der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und SPD Kanzlerkandidat Björn Engholm.

In den Unterlagen der Staatssicherheit ist zu lesen: „… dass sich die Stephanus-Stiftung zu einem Sammelbecken für Personen mit einer feindlich-negativen Einstellung gegenüber der Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR entwickelt habe.“ Dennoch schätzten einige handelnde Personen des DDR-Regimes verlässliche Gesprächspartner in Kirche und Diakonie. Einerseits gab es gute Presse in der sich verändernden politischen Kultur der damaligen DDR. Andererseits konnten auf diesem Wege dringende soziale Missstände im Land verbessert werden.

Denn Diakonie und Kirche konnten an Programmen teilhaben, die von den Kirchen aus der Bundesrepublik und der Ökumene finanziert wurden. So entstanden sogar größere Bauprojekte wie kirchliche Gemeindezentren in Neubaugebieten, Pflegeheime oder Wohnbereiche für Menschen mit Behinderung. Auch die aus dem Westen eingeführten Medikamente, hochwertige Medizintechnik oder Fahrzeuge für Einrichtungen und Mitarbeitende, entschärften an vielen Stellen soziale Schieflagen.

Werner Braune hat zahlreiche seiner Erfahrungen und Erlebnisse niedergeschrieben und im Buch „Abseits der Protokollstrecke – Erinnerungen eines Pfarrers an die DDR“ veröffentlicht. In seinem autobiografischen Bericht beschreibt er ein System, das sich zwar als humanistisch verstand, aber die Würde des Menschen missachtete. Der Pastor im Ruhestand schreibt offen, beschönigt nichts und wendet sich konsequent gegen eine allzu verherrlichende Rückschau. Er berichtet u.a. davon, wie er aus dem Gymnasium verwiesene Schüler in der Stephanus-Stiftung unterbrachte oder die Künstlerin Freya Klier und den Sänger Stephan Krawczyk über die innerdeutsche Grenze nach Bielefeld fuhr sowie über die Begegnung mit dem Ehepaar Honecker, die er am Hintereingang der Charité abholte und in der diakonischen Einrichtung Lobetal in Sicherheit brachte.

Unterhaltsam und mit viel Insiderkenntnissen nimmt Werner Braune seine Leserschaft hinein in die Zeit der 80er Jahre und führt sie weiter zu den tiefgreifenden Veränderungen nach der deutschen Wiedervereinigung.

Martin Jeutner
Leiter Unternehmenskommunikation

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