Was mir wichtig ist

„Check your privilege“ - zwischen glücklichem Geschenk und großer Verantwortung

Vor einiger Zeit lernte ich auf einer Reise eine Familie aus Russland kennen. Es entstand eine angeregte Unterhaltung zu den jeweiligen Lebenssituationen in Deutschland und in Russland. Anna ist Dozentin an einer russischen Universität. Sie und ihr Mann Alex tauschten sich sehr offen und angeregt mit uns aus. Besonders meine Tochter, die gerade ihr Abitur absolviert, war von Annas Herzlichkeit begeistert. Dieser herzliche Kontakt blieb nach unserer Reise bestehen.

Immer wieder lassen wir uns an unserem Alltag teilhaben. Oft an völlig banalen Dingen, wie an unserem Essen, an der Zubereitung verschiedener Gerichte, an unserem Wetter, Freizeitaktivitäten, Geburtstagen oder Festen.  

Vor ein paar Tagen kam meine Tochter zu mir. Eine Nachricht von Anna brachte sie zum Nachdenken. Anna schrieb ihr, dass viele Menschen in Russland nur sehr selten ins Ausland reisen können, dass Unternehmungen, wie Reisen oder Schulausflüge, die für meine Tochter „normal“ sind, eher seltene Ereignisse sind. Besonders der Krieg mit der Ukraine, mit den vielen Sanktionen, verschärft die auch vorher schon nicht einfachen Lebensbedingungen für die Bevölkerung weiter. Das spüren auch Anna und Alex. Es gibt kaum noch bezahlbare Flüge, die Versorgung mit alltäglichen Dingen wird schwieriger. Schmerzlich erleben sie den Verlust ihrer Sicherheit und verlieren damit auch Privilegien, die für uns weiterhin verfügbar sind.

Ein guter Anlass, mit meiner Tochter und meinem Sohn auf unterschiedliche Lebensbedingungen zu schauen. Dankbar zu sein, aber auch zu erkennen, wie fragil und gefährdet diese Bedingungen und die damit verbundenen Privilegien sind. Ein interessantes Gespräch, welches nicht nur unser Glück zutage brachte, sondern auch die Frage nach dem persönlichen Umgang mit unseren Privilegien.

Mir ist wichtig, meinen Kindern viele Möglichkeiten zu eröffnen, unsere Chancen umfassend zu nutzen, um ihnen damit Entwicklungs- und Entfaltungsfreiheit zu bieten. Gleichzeitig ist es mir aber auch sehr wichtig, diese Privilegien mit Werten und einem Bewusstsein zu verbinden.  

Dem Wissen und dem Erkennen, dass nicht alle Kinder so sicher in diese Welt gehen können. Nicht alle Familien in Freiheit und mit diesem Zugang zu Bildung, Krankenversicherung und notwendigen Ressourcen leben. Nicht alle Familien in Frieden und in Sicherheit sind. Ehrlicherweise sogar nur sehr wenige.

Sind wir uns dessen bewusst? Ich glaube manchmal zu wenig.

Für mich sind Privilegien nicht nur glückliche Fügung - hier geboren zu sein und nicht mit Zuschreibungen oder verwehrten Zugängen konfrontiert zu werden. Ich betrachte sie durchaus auch sehr kritisch und auch nicht als selbstverständlich.  

Für mich bedeuten sie eine umfassende Verantwortung. Sich Privilegien bewusst zu sein, mit ihnen verantwortungsvoll umzugehen, heißt für mich auch, Menschen zu unterstützen, die nicht so privilegiert sind, sie möglichst an meinen Privilegien teilhaben zu lassen. Privilegien verpflichten, für die Freiheiten und Möglichkeiten, die aus ihnen resultieren, einzustehen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, besonders für Menschen, die dies nicht allein können.  


Romy Tornow
Leitung Rehabilitation Geschäftsbereich Werkstätten

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