Dass diese Kindheit und das Heranwachsen im Heim auch mit vielen leidvollen Erfahrungen verbunden war, wurde in verschiedensten Situationen für uns als Mitarbeitende spürbar. Doch eine heilende Bearbeitung des Erlebten fand bisher kaum statt.
Das änderte sich im Jahr 2013. Da zeigte das ZDF den Spielfilm „Und alle haben geschwiegen“, der die Lebensbedingungen in kirchlichen Kinderheimen in den 1950er Jahren in Westdeutschland thematisierte. Dieser Film wurde von unseren Klient*innen eigenständig rezipiert, als Abbildung eigener Erfahrungen wahrgenommen und infolge häufiger zur Sprache gebracht. Einzelne Betroffene äußerten zusätzlich den Wunsch nach Anerkennung des ihnen geschehenen Unrechts durch die heutige Leitung der Stephanus-Stiftung. Hinzu kam, dass Klient*innen der Stephanus-Stiftung in den Jahren 2017 bis 2021 bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe finanzielle Entschädigung für erlittenes Unrecht beantragt hatten und durch das Antragsverfahren gezwungen waren, in Befragungen das Erlebte darzustellen.
Vor diesem Hintergrund beschlossen interessierte Kolleginnen und Kollegen des ABB Köpenick, den Betroffenen eine Bearbeitung der Thematik zu ermöglichen. Dazu formierten sie das Projekt KiSTE (Kindheit bei der Stephanus-Stiftung).
Über einen Zeitraum von zwei Jahren haben vier Mitarbeitende des Bereiches für sieben Klient*innen einen geschützten Rahmen schaffen können, in dem sie über Erlebtes und Erfahrenes berichten konnten. Mit Methoden aus der Biographiearbeit, Kunsttherapie und unter Einbeziehung musischer Elemente und Bewegungsübungen, wurde ein intensiver Erinnerungsprozess ermöglicht. Schmerzhafte Erfahrungen und erlebte Fremdbestimmung konnten benannt, besprochen und weitgehend in sinnhafte Lernerfahrungen und Widerstandsqualität im Selbstkonzept neu eingeordnet werden. Ebenso wurden auch die unterstützenden und positiv prägenden Erfahrungen in Dankbarkeit nacherlebt und bewusst gemacht.
Von Anfang an war geplant, dass als Abschluss dieses Projektes eine Veranstaltung im festlichen und würdigenden Rahmen stattfinden soll. Dabei wollten die Beteiligten des Projektes der Stephanus Unternehmensleitung von ihren Erfahrungen und dem Erlebten berichten. Ihr Ziel war die Anerkennung ihrer leidvollen Erfahrungen.
Am 7. Juni war es soweit: Die Andachtsgruppe des ABB bereitete gemeinsam mit den Menschen, um die es ging, eine sehr besondere Andacht vor. Unsere Vorstandsvorsitzende Pfarrerin Dr. Ellen Ueberschär unterstützte den Wunsch der Klient*innen. In ihrer Ansprache auf unserer Erinnerungsveranstaltung am 7. Juni 2024 im „Ort der Stille“ auf dem Ulmenhof in Berlin-Köpenick sprach Ellen Ueberschär mit sehr klaren Worten die Anerkennung erlebten Unrechtes und Leids in Stephanus-Einrichtungen aus.
Sie sagte: „Alle haben sich erinnert, wie es war - wie die ‚Tanten‘ waren.
Jede ‚Tante‘ war anders. Manche von ihnen war freundlich und liebevoll.
Manche war nicht liebevoll. Vor manchen mussten die Kinder Angst haben.
Das war nicht richtig. Das war falsch.
Daran müssen wir uns als Stephanus-Stiftung erinnern, das müssen wir laut sagen.
Und wir müssen sagen: Verzeihung. Und ich sage: Es tut mir leid.
Heute ist es wichtig zu sagen: Ja, wir hören zu. Wir haben die Ohren offen.
Wir tun alles, damit es heute besser ist.“
Alle ehemaligen Kinder des Ulmenhofes und des Marienhauses Rüdersdorf waren zu der Andacht eingeladen. Über 50 von ihnen machten sich auf den Weg. Dabei kam es zu einem herzlichen Wiedersehen einerseits und einem besinnlichen Miteinander andererseits. Ganz besonders berührend war das gemeinsame Singen des Liedes „Kinder“ von Bettina Wegener. Der schöne „Ort der Stille“ auf dem Ulmenhof bot den angemessenen Rahmen für diese wichtige Veranstaltung.
Für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des KiSTE-Projektes wurde mit dieser Andacht ein würdiger Abschluss eines prägenden Lebensabschnittes gefunden.
Für Stephanus geht der Prozess der Auseinandersetzung mit den Fehlern und Vergehen aus der Vergangenheit nun weiter. Die Geburtstagsandacht der Stephanus-Stiftung am 30. Juni 2024 stand im Zeichen von Erinnerung und Anerkennung. Mit dem Abschluss des Projektes im Ulmenhof ist das Thema lange nicht beendet.
Im Geschäftsbereich Wohnen und Assistenz bekommt die Aufarbeitung der Vergangenheit aus Sicht der Klient*innen einen festen Platz. Weitere Projekte werden gefördert und geplant. Die Kolleginnen und Kollegen an den anderen Standorten im Bereich Wohnen und Assistenz sind eingeladen, an den Erfahrungen im Ulmenhof teilzuhaben. Wer mehr wissen möchte: In einer ausführlichen Dokumentation sind Herangehensweise und Methoden beschrieben.
Wer Eindrücke oder Erinnerungen oder Ideen zur Aufarbeitung der Heimerziehung teilen möchte, kann sich gern an Kerstin Leisterer im GB Wohnen und Assistenz wenden.
Anke Bähr, Leiterin ABB Köpenick