Historie der Stephanus-Stiftung

Was zeichnet die Stephanus-Stiftung aus? 145 Jahre lang hat sich diese christliche Organisation in mehreren Epochen deutscher Sozialgeschichte nicht nur behauptet. Vielmehr haben sich die agierenden Menschen zu jeder Zeit auch sozialpolitisch mit eingebracht. Oft betraten sie dabei Neuland, entwickelten innovative Denk- und Handlungsansätze und legten sich dabei gelegentlich auch mit Vertretern der Politik an. In drei Kapiteln stellt Martin Jeutner die Geschichte der Stephanus-Stiftung dar und setzt die Reihe fort mit dem Zeitraum von 1945 bis 1990.

Kapitel 2     Die Nachkriegsjahre und Diakonie im Sozialismus 

Trotz erheblicher Kriegsschäden und russischer Besatzung können die Mitarbeitenden der „Adolf-Stöcker-Stiftung“ (So hieß die Stephanus-Stiftung damals.) Ende 1945 die Arbeit in Berlin-Weißensee wieder aufnehmen. Zunächst mit einer Entbindungsstation und einem Heim für werdende Mütter. Hinzu kommt der Dienst an vielen vertriebenen und heimatlosen Menschen, die auch in Weißensee eine Bleibe suchen. Damals erst begann auch die Arbeit für ältere pflegebedürftige Menschen in der Stiftung.  

Mit Zustimmung der Sowjetischen Militäradministration wird die zerstörte Kapelle auf dem Gelände wieder aufgebaut und 1950 vom damaligen Bischof Otto Dibelius als Friedenskirche geweiht. Seitdem war sie auch ein Tagungsort für die Generalsynode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Im April des gleichen Jahres fand dort die berühmte „Weißenseer Friedenssynode“ statt. Sie beschließt ein „Wort zur Schuld an Israel“. Darin ist erstmals ausdrücklich von der Mitschuld der Kirche und der Christen an den in der NS-Zeit begangenen Verbrechen an den Juden die Rede. 


Neue Felder sozialer Arbeit  

Nach der Übergabe einiger sozialer Einrichtungen wie dem Ulmenhof Berlin-Köpenick, dem Elisabethheim in Eggersdorf sowie einem Altenpflegeheim in Gernrode (Harz) an die Stiftung, entwickelten sich in den Folgejahren weitere Arbeitsfelder, wie die Begleitung von Kindern und Erwachsenen mit geistiger Behinderung sowie die Pflege älterer Menschen.  

Im Jahr 1963 beschließt das Kuratorium die Namensänderung in Stephanus-Stiftung. 1973 übertrug man ihr sieben weitere christliche Einrichtungen. Dazu zählen Heilbrunn, das Waldhaus in Bad Freienwalde, Haus Sonnenblick in Biesenthal, Haus am See in Brüssow, Haus Waldsee in Grünheide, Im Sonnenwinkel in Haßleben, das Marienhaus in Rüdersdorf, der Waldhof in Templin sowie das Haus im Wind in Marwitz und das Haus Meeresfrieden in Heringsdorf.  

Jede dieser Einrichtungen hatte bis dahin ihre eigene, teilweise sehr bewegende Geschichte. So gehörten das Waldhaus Bad Freienwalde sowie das Rothe Haus in Brüssow zu den Einrichtungen, die zur NS-Zeit im Euthanasieprogramm eine erschütternde Rolle spielten.  

In den Nachkriegsjahren war es insbesondere für kirchliche Einrichtungen in der DDR sehr schwierig, sich wirtschaftlich zu stabilisieren. Dank dem kreativen und hohen Engagement der Stephanus Mitarbeitenden sowie der finanziellen Unterstützung von Kirche und Diakonie aus der Bundesrepublik gelang es jedoch, den Dienst an Kindern und erwachsenen Menschen mit Behinderung weiter auszubauen.  

Das zeigte sich insbesondere auch im sonderpädagogischen Bereich. Trotz des DDR-staatlichen Bildungsmonopols entwickelten Mitarbeitende für beeinträchtigte Kinder, Jugendliche sowie auch Erwachsene verschiedene Bildungskonzepte. Die Stiftung unterhielt auch evangelische Kindertagesstätten und eine Ausbildungsstätte für Fachkräfte. 

Diese wurde bereits im Jahr 1952 im heutigen Haus 8 als „Kirchlich-Diakonischer Lehrgang“ eröffnet, um Männer als Diakone auszubilden. Diese angehenden Fachleute übernahmen später Leitungsaufgaben in diakonischen Einrichtungen oder waren als Sozialarbeiter in städtischen Kirchengemeinden tätig.  

 

Ost-West Begegnungen in Weißensee 

Durch den EKD-Tagungsort Friedenskirche etablierte sich auf dem Stiftungsgelände in Weißensee eine Tagungs- und Begegnungsstätte. Zahlreiche internationale sowie deutsch-deutsche Begegnungen von Kirchengemeinden und Fachgruppen fanden dort statt. Auch viele west- und ostdeutsche Politiker*innen kamen, um an solchen Tagungen teilzunehmen.    

Mit Einweihung des Heimes für Kinder mit geistiger Behinderung beginnt 1972 in Berlin-Weißensee die pädagogische Förderarbeit nach den gesetzlichen Möglichkeiten in der DDR.  

1975 wird der Glockenstuhl auf dem Stiftungsgelände in Weißensee eingeweiht, den der Berliner Kunstschmied Achim Kühn unter Verwendung zweier alter Glocken aus dem 15. und 18. Jahrhundert schuf. Im gleichen Jahr nimmt in Weißensee eine „Anlernwerkstatt für Jugendliche mit geistiger Behinderung“ den Betrieb auf, ein Vorläufer der Stephanus-Werkstätten. 

Im Jahr 1984 richtet die Stephanus-Stiftung das „Zweite Zentrale Sportfest des Diakonischen Werkes in der DDR für Menschen mit geistiger Behinderung“ aus. Das von Stephanus-Mitarbeitenden entwickelte didaktische Spiel „Benennen-Erkennen-Ordnen-Spielen-Gestalten“ wird 1985 auf der „Messe der Meister von Morgen“ (MMM) in Leipzig vorgestellt, anschließend selbst produziert und durch die Stiftung vertrieben. 

Bis zum Jahresende 1989 übertrugen Kirche und Staat den Leitungspersönlichkeiten der Stephanus-Stiftung immer auch humanitäre Aufgaben. Dabei ging es u.a. um Einzelschicksale von Menschen, die in politische Bedrängnis geraten waren. Darunter z.B. Schüler eines Weißenseer Gymnasiums oder auch Dissidenten oder Ausreisewillige. Wie später in zahlreichen Dokumenten der DDR-Staatssicherheit zu lesen ist, hielt man die Stephanus-Stiftung dort für ein „Sammelbecken für feindlich negative Kräfte“. 

In der Wendezeit dann begleitete der damalige Stiftungsdirektor Werner Braune die Familie Erich Honecker in die Diakonische Stiftung Lobetal, weil diese praktisch obdachlos geworden waren. Hier zeigte sich in besonderer Weise, wie vielfältig sich diakonisches Selbstverständnis in der DDR entwickeln konnte.  

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe über Geschichte der Stephanus-Stiftung von 1990 bis 2023. 
 

Martin Jeutner 

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