„Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig…“ 145 Jahre Stephanus-Stiftung im Rückblick

Was zeichnet die Stephanus-Stiftung aus? 145 Jahre lang hat sich diese christliche Organisation in mehreren Epochen deutscher Sozialgeschichte nicht nur behauptet. Vielmehr haben sich die agierenden Menschen zu jeder Zeit sozialpolitisch mit eingebracht. Oft betraten sie dabei Neuland, entwickelten innovative Denk- und Handlungsansätze und legten sich mit Vertretern der Politik an. Dabei standen meist Menschen im Mittelpunkt, die die Gesellschaft als Last oder gar als Bedrohung empfand.

 

In drei Kapiteln stellt Martin Jeutner die Geschichte der Stephanus-Stiftung dar und beginnt mit dem Zeitraum von 1878 bis 1945.

Kapitel 1 Die Gründung und erste Jahrzehnte

Die Stephanus-Stiftung wurde am 24. Juni 1878 in Berlin gegründet und hieß damals noch „Bethabara-Stiftung“. Das bedeutet in der hebräischen Sprache „Stelle am reißenden Fluss, an dem es eine Furt zum rettenden Ufer gibt“. Es war der Gefängnispfarrer Ernst Gottlieb Georg Berendt (1842-1919), der die Not der Frauen im damaligen Hausvogtei-Frauengefängnis Berlin sah, wenn ihre Haftzeit zu Ende ging. Weder Staat noch Kirche boten ihnen zu jener Zeit Hilfe an. Von der Gesellschaft an den Rand gedrängt und von der Kirche wenig beachtet, hatten sie kaum Perspektiven. Durch mangelnde Chancen zur Integration stieg die Wahrscheinlichkeit zum Rückfall in die Kriminalität.

Das 19. Jahrhundert war geprägt durch Kriege und deren Folgen. Die Modernisierung und Industrialisierung veränderten die Gesellschaft. Immer mehr Menschen zogen in die Städte. Die Politik reagierte ab 1883 mit neuen Sozialgesetzgebungen wie Krankenversicherung, Unfallversicherung sowie die Alters- und Invaliditätsversicherung.

Durch bessere medizinische Versorgung und ein größeres Maß an Hygiene sank die Säuglingssterblichkeit und die Lebenserwartung stieg. Die Gesamtbevölkerung wuchs in diesen Jahren von knapp 41 Millionen (1870) auf über 67 Millionen (1913). In Großstädten wie Berlin war dieser Zuwachs am deutlichsten zu spüren.  

Doch die wachsenden Lebenshaltungskosten hielten nicht mit den realen Einkommen vieler Familien stand. Deshalb mussten immer mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, um das Auskommen ihrer Familien zu sichern. Nicht selten gerieten insbesondere junge Frauen mit dem Gesetz in Konflikt und wurden zu Haftstrafen verurteilt.  

In dieser Zeit bot Pfarrer Ernst Berendt diesen Frauen Unterstützung an. Über seine seelsorgerische Tätigkeit hinaus, vermittelte er ihnen zunächst Patenschaften zu Familien, die sie manchmal nach der Haftentlassung aufnahmen. Mit Gründung der Bethabara-Stiftung finanzierte er später Gebäude, in denen aus der Haft entlassene Frauen eine erste Anlaufstelle fanden. Dort bot er ihnen Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten an sowie medizinische Versorgung auch für ihre Kinder. In Berlin gab es so ein Angebot bis dahin nicht.  


Unterkunft, Ausbildung und Betreuung

Nahe des Weißensees entstanden in den Jahren ab 1879 ein „Zufluchtsheim für Mädchen und Frauen“ mit verschiedenen hauswirtschaftlichen Ausbildungsmöglichkeiten. Darüber hinaus betreute die Stiftung schwangere Minderjährige und eröffnete auch eine „Entbindungs- und Säuglingsstation“. In weiteren Gebäuden nahm die Stiftung später „gefährdete weibliche Fürsorgezöglinge“ auf und gründete 1903 ein „Krankenhaus für geschlechtskranke weibliche Fürsorgezöglinge“. Hier berief der Stiftungsvorstand Dr. Agnes Magdalena Hacker zur ersten Chefärztin, damals etwas ganz Außergewöhnliches. Denn zu dieser Zeit waren Frauen in Deutschland an Universitäten nicht zugelassen. Dr. Hacker absolvierte ihre medizinische Ausbildung in der Schweiz und hatte mit anderen Ärztinnen eine Praxis für Frauen in Berlin eröffnet.

In den Jahren bis 1930 konnte die Stiftung weitere Gebäude errichten, um z.B. auch „schwer psychopathische Mädchen“ aufzunehmen. Auf Veranlassung der Berliner Behörden wird das Krankenhaus für „Geschlechtskranke minderjährige Mädchen“ für 110 Betten baulich erweitert. Die 1933 eröffnete „Parkklinik“ war das erste homöopathische Krankenhaus in Deutschland.

Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen übernahm ab 1938 der „Provinzial-Ausschuss für Innere Mission der Provinz Brandenburg“ die Stiftungsgeschäfte. Der zu dieser Zeit verantwortliche Vorstand Pfarrer Ernst Berendt jr. verlässt die Stiftung. Wegen seiner Widerstandshaltung gegenüber den Nationalsozialisten wird er mehrfach verhaftet und stirbt am 4. August im Konzentrationslager Dachau.

Im Zuge der Ausmerzung jüdischer Namen wurde die Bethabara-Beth-Elim-Stiftung 1941umbenannt in Adolf-Stoecker-Stiftung. Diese Maßnahme war nur eine von vielen Beeinträchtigungen und Eingriffen durch den Staat und ein Zeichen für die „hohen Wogen“ dieser Zeit.

Zum Ende des zweiten Weltkrieges wurden mehrere Gebäude auf dem Stiftungsgelände zerstört. Doch die Arbeit kam nicht zum Erliegen. Neue Aufgaben und Herausforderungen mussten nun bewältigt werden.

Lesen Sie den zweiten Teil der Serie „Historie Stephanus“ in der nächsten Ausgabe der Rundschau.

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