„Keine Gewalt!“ 

Pfarrer i.R. Alfred Scherlies lebt im Ernst-Berendt-Haus in Weißensee

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, die Deutschland für 28 Jahre, zwei Monate und 28 Tage geteilt hatte. Pfarrer i.R. Alfred Scherlies wohnt im Ernst-Berendt-Haus und erinnert sich an diesen Tag und an die Zeit davor. 

Alles begann mit der Solidarnosc-Bewegung in Polen. 1980 hatte ich meine erste Besuchsreise in die Sowjetunion nach Kasachstan. Mit einem anderen Reiseteilnehmer, der SED-Funktionär war, kam es zu einem Gespräch über die Solidarnosc-Bewegung. Im Gespräch wurde mir klar, das ist jetzt ein Anfang. Hier ist ein Zeichen, dass es im Sozialismus gärt. Später,1988, organisierte ich für junge Christen eine Reise ins Baltikum. In Vilnius, Riga, Tallin und Leningrad umwehte uns eine Freiheit. Bei uns, in der DDR, war noch alles ruhig.   

Und dann kam der 7. Oktober 1989. Vorher gab es schon die Umzüge zum 40. Jahrestag der DDR und Gorbatschow war zu Besuch. Die FDJ, die das organisiert hatte, rief: „Gorbi, Gorbi, hilf uns!“ Die DDR-Regierung spielte da gar keine Rolle mehr. 

Wir feierten Erntedankgottesdienst am Nachmittag in der Schönhauser Allee. Die Besucher hatten Angst, denn es war eine Unruhe in der Stadt. Einige Frauen trauten sich nicht, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren. Ich habe sie dann mit meinem Wartburg nach Hause gebracht. Als ich nach Hause kam, sah ich, dass ganze Kompanien mit Schutzschildern, Schlagstöcken und heruntergelassenem Visier dort standen. Und davor große Räumfahrzeuge. Dann kamen kleine Gruppen die Schönhauser Allee hoch. „Wir sind das Volk, wir sind das Volk! Keine Gewalt, keine Gewalt!“, riefen sie. Sie wollten zur Gethsemane-Kirche und wurden dann abgedrängt. 

Ich bin raus, habe mir das angeguckt und lief auf Umwegen zur Gethsemane-Kirche. Ich habe die Besucher informiert, was draußen los war. Der Bischof war dort und sie hatten keine Ahnung. Der Bischof sprach mit dem Polizeikommissar. Die Polizei wollte erst keinen rauslassen, aber dann zu zweit durften die Teilnehmer des Gottesdienstes nach Hause.  

Ich konnte auch nur auf Umwegen zurück. Die Nebenstraßen waren durch Menschenketten gesperrt. Plötzlich war ich dahinter und kam nicht mehr in die Schönhauser Allee rein. Sie wollten mich nicht durchlassen. Ich hatte auch meinen Ausweis nicht mit, ich wollte ja nur kurz vor die Haustür. Ich wäre um ein Haar auch den Demonstranten „zugeführt“ worden. Ich habe mich dann durch die Absperrung durchgequetscht und kam so wieder nach Hause. Da merkte ich, jetzt ist etwas im Gange, was nicht mehr aufgehalten werden kann.

Der 9. Oktober war ein Montag. Die große Montagsdemonstration von Leipzig. In der ganzen Wendezeit spielte Leipzig eigentlich eine größere Rolle als Berlin. Aber ich habe es eben hier in Berlin erlebt. Honecker war bereit gewesen, die „Konterrevolution“ mit Gewalt niederschlagen zu lassen. Später hieß es, dass Egon Krenz sich dafür eingesetzt hätte, dass keine Waffen eingesetzt wurden. Es kann aber auch sein, dass die Funktionäre in Leipzig den Einsatz von Waffen verweigert hatten. Das waren für mich entscheidende Tage. Honecker wurde abgesetzt und das Politbüro löste sich auf. Es gärte in Berlin. 

An zwei Ereignisse erinnere ich mich besonders: Zum einen an die Kerzendemo in Kreuzform durch die ganze DDR und zum anderen an den 4. November – die Demonstration von den entstehenden Umweltgruppen auf dem Alexanderplatz. Es gab Sternmärsche von verschiedenen Richtungen zum Alexanderplatz und dann die Kundgebung. Wir waren natürlich mit dabei gewesen, meine Kinder auch mit Plakaten. Ich hatte ihnen noch geholfen, diese zu entwerfen. Das war ungeheuer eindrücklich. Es waren auch Ordner eingesetzt mit Schärpen „Keine Gewalt“. Diese Demo verlief sehr ruhig.

Am 9. November dann kam Günther Schabowski. Man wollte eine legale Ausreise jetzt auch nach Westberlin mit Visa ermöglichen. Alles sollte kontrolliert stattfinden. Aber mit den Ereignissen auf der Bornholmer Brücke kam es nicht mehr dazu. 

Seitdem gab es kein Halten mehr. Ich bin an diesem Tag nach Sachsen mit dem Auto gefahren, um in Radebeul russische Bibeln abzuholen, die wir in Berlin an das russische Militär verteilen wollten. Ich machte Station in Luckenwalde, wo mein ältester Sohn wohnte. Er war in heller Aufregung. Er hatte den Gestellungsbefehl erhalten, Bausoldat zu werden. Nun war er inzwischen verheiratet und hatte zwei Kinder. Sie saßen da und meine Schwiegertochter war verzweifelt: „Wenn Gottfried eingezogen wird, fahren wir heute noch über Ungarn in die Bundesrepublik.“ 

Als ich dann abends aus Sachsen zurückkam, war der Sturm auf die Bornholmer Brücke schon losgegangen. Mein zweiter Sohn rief schon vom Kudamm aus an. Ich kam nach Hause und da saß mein Sohn mit seiner Familie mit gepackten Koffern: „Wir wollen heute noch nach Hannover.“ Dort wohnten seine Schwiegereltern, die schon vorher aus der DDR in den Westen übergesiedelt waren. „Ihr seid doch verrückt. Jetzt wartet doch erstmal“, sagte ich. Es war die Angst da, dass es nur ein paar Tage dauerte. Ich habe ihnen schließlich meinen Wartburg gegeben und dann sind sie noch am Abend losgefahren. Sie brauchten sechs oder sieben Stunden bis nach Hannover. Es wurde an der Grenze noch kontrolliert. Das war mein 9. November.
 

Pfarrer i.R. Alfred Scherlies

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