Eine Kindheit in Berlin

Die Bewohnerin des Dr. Harnisch Hauses, Frau Gertrud Andree, beging ihren 106. Geburtstag

Als ich Frau Andree vor kurzem besuchte, erzählte ich ihr von der Idee einen Artikel über sie zu schreiben, denn vermutlich ist sie derzeit die älteste Friedrichshainerin. Sie war sofort einverstanden und begann gleich mit der Geschichte ihres langen Lebens.

Gertrud Andree wurde ein Jahr vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges, im Jahre 1913, geboren. Seit dem vergangenen Jahr wohnt sie im Dr. Harnisch Haus und feierte am 22. Juli diesen Jahres ihren 106. Geburtstag.

Geboren wurde sie in der Nähe des Rosenthaler Platzes, in der 1-Zimmer-Wohnung ihrer Mutter. Der heutige Szenekiez rund um die Linien- und Auguststraße war damals ihr Zuhause. Wenn sie sich an ihr Leben erinnert, erzählt Gertrud Andree leidenschaftlich und lächelnd über die vergangene Zeit.

Ihre Großmutter betrieb in der Ackerstraße eine Näherei. In dieser Nähstube verbrachte Gertrud Andree einen großen Teil ihrer Kindheit, sie saß dort im Wäschekorb und sang. Als sie vier oder fünf Jahre alt war, bediente sie bereits die Knopflochmaschine.

Morgens auf dem Weg von zu Hause zur Näherei ihrer Großmutter setzte sie sich immer auf den Rinnstein gegenüber einer Bäckerei und wartete auf die sogannte "Quäkerspeisung". Sie bekam dann vom Bäcker ein Brötchen.

Als Jugendliche war sie in ihrer freien Zeit wandernd und singend unterwegs, sehr gerne auch im Tierpark "bei Dathe". Dort brachte sie aufgelesene Kastanien und Eicheln für die Tiere vorbei.

Beliebt war bei den Heranwachsenden das "Haus Vaterland" am Potsdamer Platz, in dem auch ein Kino war.

Bei Wikipedia steht dazu: "Das Haus Vaterland war von 1928 bis 1943 ein großer Gaststättenbetrieb und Vergnügungspalast am Potsdamer Platz in Berlin mit rund einer Million Besuchern im Jahr, der als Vorläufer der heutigen Erlebnisgastronomie angesehen werden kann."

Gertrud lernt Stenografie und arbeitet bei einer jüdischen Konfektionsfirma. Als die Unternehmerfamilie dann in die Schweiz emigrieren musste, suchte sie andere Arbeiten. Sie war etwa bei einem Fahrrad- und Motorradverleih beschäftigt.

Besucht man den Wohnbereich auf dem sie wohnt, sieht man sie in ihrem Rollstuhl meist auf dem Flur sitzen. Hier ist immer etwas los, es kommen Menschen vorbei, sprechen sie an, streicheln ihr über den Rücken. Oder sie ist im Foyer des Hauses bei den Vögeln, spricht mit ihnen und freut sich, wenn sie antworten.

Sie unterhält sich gern, auch über die Veränderungen der Stadt - von damals zu heute.

Darum planen wir eine gemeinsame Ausfahrt durch ihren alten Kiez. Wir fahren in die Ackerstraße, dort wo damals die Näherei war, zum Haus der Bäckerei an der sie morgens ihre Schrippe bekam ...

Ines Lischewsky

Foto: Monika Keiler

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