Region Uckermark - Teilhabe anders als erwartet

Am Harmonium spielt Dirk Reichstein. Einige Bewohner, die in der Werkstatt an der Reparatur des Harmoniums mitwirkten, begleiteten Dirk Reichstein.

Menschen mit Behinderung reparieren alte Harmonien für Kirchen in der Uckermark

Eine Kirche mit spielbarer Orgel ist besonders in ländlichen Gegenden schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr. Kirche ohne Musik ist auch nicht denkbar. Wo es früher schon keine teure Orgel gab, schafften sich Gemeinden manchmal ein Harmonium an. Betrieben mit zwei Fußpedale, die durch Luftzug Klänge erzeugen und von der Größe her überschaubar sind, war dieses Instrument mit Tastatur nicht nur deutlich günstiger und pflegeleichter. Es passte praktisch in den kleinsten Gemeinderaum oder auf die engste Empore. Heute sind spielbare Harmonien, die zur Familie der Blasinstrumente gehören, kaum noch vorhanden. Meist sind sie kaputt und fristen auf Dachböden oder Kammern ein trauriges Dasein.

Doch einige Enthusiasten und Handwerker können sie reparieren. Dirk Reichstein in der Uckermark ist einer von ihnen. Der gelernte Orthopädietechniker-Meister spielt im Ehrenamt Orgel, gibt Konzerte und begleitet Gottesdienste in den Gemeinden zwischen Prenzlau, Pasewalk und Templin. Daher kennt er viele Kirchen in der Region und weiß, wie es um die Instrumente dort bestellt ist.

„Ich sollte mal einen Gottesdienst auf einem Harmonium begleiten, aber das war leider sehr verwahrlost und hatte einen schrecklichen Klang“, erzählt Dirk Reichstein. „Weil ich mich schon als Jugendlicher mit dem Bau von Instrumenten beschäftigt hatte und mich mit Orgeln ganz gut auskenne, dachte ich, wir sollten probieren, es zu reparieren.“

Bereits in jungen Jahren arbeitete Reichstein bei einem Orgelbauer in den Schulferien und in seiner Ausbildung zum Orthopädietechniker hatte er mit Holz, Metall und Stoffen zu tun. Alles, was auch in einem Harmonium verbaut ist.

Den richtigen Ort für eine Reparaturwerkstatt fand Dirk Reichstein in Haßleben (Uckermark). Dort ist er als Betreuer in einer Wohnstätte der Stephanus-Stiftung für Menschen mit geistiger Behinderung tätig. Durch seine langjährigen Berufserfahrungen im Umgang mit Menschen, die mit einer Beeinträchtigung leben, erkannte er schnell die Begabungen und Fähigkeiten einiger Frauen und Männer dort. So entstand der Gedanke, mit und für die Bewohner*innen eine kleine Werkstatt einzurichten und Harmonien zu reparieren. Denn Musik spielt in ihrem Leben eine wichtige Rolle.

Doch für Reichstein ist es immer wichtig, die Menschen mit Behinderung in die verschiedenen Arbeitsschritte der Reparatur eines Harmoniums mit einzubeziehen.

Im Rahmen der internen Gestaltung des Tages können die Bewohner*innen der Wohnstätte in Haßleben mehrmals die Woche nachmittags in die Werkstatt kommen und an den einzelnen Reparaturaufgaben mitwirken. Sie zerlegen die alten Holzgehäuse und Tastaturen, entfernen viele Schrauben und kleine Ventile und sichern alte Stoffe und Filze.

„Alle Einzelteile prüfen wir sorgsam, ob wir sie reparieren und wiederverwenden können oder sie ersetzen müssen“, erläutert Dirk Reichstein. Mit viel Zeit werden seine Mitstreiter*innen dann jedes Teil säubern, schleifen oder neu herstellen. Ihre Mitwirkung orientiert sich an ihren individuellen Möglichkeiten. Einige können teilweise selbstständige Aufgaben übernehmen, wie die Dokumentation der Einzelteile oder der Aufträge. Unter Anleitung erkennen andere z.B. Probleme, suchen Lösungen und stellen Ersatzstücke her. Bei der Montage dann erhalten sie ein gutes Bild davon, wie das Instrument funktioniert.

Weil es Ersatzteile im Handel nicht gibt, wird oft improvisiert. Dank seiner guten Vernetzung zu anderen Orgelbau- bzw. Harmonium-Werkstätten bekommt Dirk Reichstein so manches Teil auf diesem Wege. Auch seine Mitgliedschaft in der „Gesellschaft der Orgelfreunde“ ist da sehr hilfreich.

„Im letzten Winter besuchten wir die Orgelbauwerkstatt von Gilbert Paul Scharfe in Baden-Württemberg. Der Meister dort hat uns gleich vier alte Instrumente überlassen, die wir nun auch als Ersatzteilspender verwenden“, berichtet Dirk Reichstein. Doch ein oder zwei der Instrumente möchte er auch wieder zum Klingen bringen.  

So wie das Harmonium, welches seit einigen Wochen in der Dorfkirche in Nieden nahe Prenzlau steht. Sie ist ein ganz besonderes architektonisches Kleinod mit einem Altar und einem hängenden Taufengel aus dem 17. Jahrhundert. Der Prenzlauer Kantor Hannes Ludwig kam auf Dirk Reichstein mit der Frage zu, ob er nicht ein Harmonium hätte, da die Grüneberg-Orgel dort nicht mehr spielbar ist.

Heute steht ein in Haßleben frisch saniertes Harmonium in der schönen Kirche und erklingt bei Gottesdiensten und Konzerten. Doch es klingt nicht nur gut, es sieht auch schön aus. Der Korpus wurde sorgfältig abgeschliffen, geölt, gebeizt und poliert. Zahlreiche kleine Einzelteile sind ersetzt. Zum Beispiel die Registerknöpfe, die Stoffe der Schalllöcher, die Bezüge der Pedale oder einzelne Tasten. Passend zum Design des Instrumentes baute Dirk Reichstein sogar eine neue Spielbank aus dem Holz eines alten Schrankes vom Sperrmüll.

„Wir nehmen uns viel Zeit, um so ein schönes Instrument wieder zum Klingen zu bringen“, sagt Dirk Reichstein. Denn es kann mehrere Monate dauern, bis ein Harmonium wieder spielbar ist. Aber dann ist die Freude nicht nur in der Werkstatt groß. Auch in den Kirchengemeinden freuen sich Musiker*innen und Gemeindemitglieder, wenn die Lieder in der Kirche wieder mit einem Instrument begleitet werden. Zur feierlichen Übergabe fahren dann alle mit, die an der Reparatur beteiligt waren. So auch in den uckermärkischen Kirchen Milmersdorf und Gerswalde.

„Mein Eindruck ist, dass sich den Menschen mit Behinderung durch die gemeinsame Arbeit an den alten Instrumenten und den Begegnungen in den Kirchengemeinden ein ganz neuer Erfahrungs- und Erlebnishorizont eröffnet“, sagt Dirk Reichstein. Genau das ist es auch, was das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vorgibt: Ganz normale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

In der Werkstatt in Haßleben warten noch einige Harmonien darauf, saniert und repariert zu werden. Langweilig wird es den Leuten dort auf längere Sicht jedenfalls nicht.
 

Martin Jeutner

 

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