17.09.2025 - Oberlin-Seminar

„Hier werde ich gesehen!“

Mental Health am Oberlin-Seminar

Drei Frauen stehen zusammen im Kreis und schauen sich weiße Blätter mit aufgedruckten Texten an.© Archiv Stephanus-Stiftung -

Das Mental-Health-Team am Oberlin Seminar: Ina Schott, Anne Mielich, Nimfodora Häußler

Das Mental-Health-Team des Oberlin-Seminars bietet seinen Schüler*innen seit zwei Jahren psychosoziale Beratung in jeder Lebenslage. Drei Kolleg*innen – Ina Schott, Anne Mielich und Nimfodora Häußler – unterstützen, stabilisieren und zeigen Perspektiven auf. Das Angebot wird gut angenommen und stärkt damit nicht nur jede*n Einzelne*n, sondern trägt auch dazu bei, dass die Schüler*innen am Oberlin-Seminar in einem zugewandten und familiären Schulklima lernen können. Eine Schülerin: „Hier spüre ich echtes Interesse. Hier werde ich nicht verurteilt. Hier werde ich gesehen!“ Ein Interview mit dem Mental-Health-Team.

Was ist die zentrale Aufgabe des Mental-Health-Teams?
Mental Health am Oberlin-Seminar bietet Studierenden und Lernenden in Krisenmomenten oder bei Überforderung zunächst die Möglichkeit für ein vertrauliches Gespräch, um sie dann fachlich zu unterstützen. Dies kann mithilfe psychosozialer Beratung, individuellem Coaching oder Tonfeldtherapie erfolgen. Gegebenenfalls machen wir aufmerksam und vermitteln an passende Beratungsstellen und Therapieangebote weiter. Das entlastet die Schüler*innen ebenso wie die Kolleg*innen, indem die Schüler*innen die eigenen Ressourcen wieder zielgerichteter erkennen und aktivieren können. Auf diese Weise können wir mentalen Krisen präventiv begegnen. Bei Konflikten fördert das Mental-Health-Team neue Sichtweisen und hilft, eigene Deeskalationsstrategien zu entwickeln und anzuwenden. Unser Ziel ist es, die Schüler*innen und Studierenden wieder zu ermutigen und in die Lage zu versetzen, ihr Leben und Lernen als sinnvoll zu erleben und für sie umsetzbare Ziele zu erkennen. Unsere Arbeit ist darauf ausgerichtet, dass Hilfesuchende Strukturen und Ansprechpartner*innen an die Hand bekommen, um Krisen zu meistern und ihr Leben aktiv und selbstbestimmt gestalten zu können.

Woher kam die Idee? Gab es einen konkreten Anlass?
Die Arbeit des Mental-Health-Teams am Oberlin-Seminar Berlin geht auf die stark veränderte Lebenswirklichkeit in und nach der Corona-Zeit zurück. Nach der zweiten Phase des Online-Unterrichts gab der Senat eine Befragung aller Schüler*innen und Studierenden in Auftrag. Diese wurde von den Lehrkräften an den Schulen durchgeführt. Dabei zeigte sich in allen Altersstufen und Ausbildungsformen eine große Bandbreite an Themen und Gesprächsbedarf – auch innerhalb unserer Schulgemeinschaft. Die in begleitenden Studien zu den langen Phasen des Homeschoolings erfassten Folgeeffekte der fehlenden Begegnungsformen mit Gleichaltrigen in der Schule, zeigten die besondere Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen. 

Dies führte 2023 zu einer Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Leitung von Lisa Paus. Diese reagierte auf die Ergebnisse des Abschlussberichts „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ mit dem Beschluss, Mental-Health-Coaches an Schulen einzusetzen. Da uns als freie Schule das vom Ministerium beauftragte Kontingent an Coaches nicht direkt zur Verfügung stand, haben wir auf unsere eigenen fachlichen Ressourcen im Kollegium zurückgegriffen und das Oberlin-Mental-Health-Team gebildet.  

Wie geht das Mental-Health-Team vor?
Wir bekommen eine Anfrage – entweder direkt von Schüler*innen, einen Hinweis, der eine Freundin oder einen Freund betrifft oder aber Kolleg*innen wenden sich an uns. Nach der Kontaktaufnahme, entweder über die schulinterne Chat-Plattform oder durch Ansprache in der Schule, z. B. nach einer Unterrichtseinheit, findet dann meist mit vereinbartem Termin ein Erstgespräch zur Auftragsklärung statt, in dem Anliegen und Ziele genau formuliert werden. Und dann stimmen wir im Team ab, wer mit welchen Methoden und in welchem Zeitraum dieses Anliegen gut mit den Schüler*innen oder Studierenden bearbeiten kann und unter Umständen auch schon als Wunschbegleitung angefragt wurde. In den einmal wöchentlich stattfindenden Team-Treffen beraten wir den Stand und Entwicklungsfortschritt aktueller Fälle und arbeiten generell an der Qualitätssicherung unserer Angebote.

Wie viel Stunden steht das Team den Schülerinnen und Schülern pro Woche zur Verfügung?
Wir sind zu dritt und beraten nach aktuellem Bedarf – also gibt es mal fünf Beratungen pro Woche und mal nur eine, je nachdem, wer was braucht und in welcher Phase des Schuljahres wir uns befinden.

Was war für Sie eine wertvolle Erfahrung bzw. Erkenntnis?
Die Themen sind ebenso vielfältig wie unsere Schülerschaft und Studierenden. Manche haben Schwierigkeiten in der Motivation, zur Schule zu gehen und damit einhergehend eine Gefährdung des Abschlusses, andere plagen Präsentations- und Prüfungsangst oder Schwierigkeiten in der Praxis. Es kann sich um Streit und Krisen mit Freund*innen, mit Eltern oder Lehrkräften handeln, um Ängste allgemein, Schulangst und auch Liebeskummer mit schwerfallender Abgrenzung. Weiterhin werden uns Probleme durch Ausgrenzungserfahrungen, Einsamkeit, Trauer nach dem Verlust eines nahen Menschen, Orientierungsverlust infolge weltpolitischer Zuspitzungen und vieles mehr geschildert. Da ist es für alle hilfreich, dass sie mit diesen Schwierigkeiten nicht allein gelassen werden, dass sie einen sicheren Ort finden, um sich zu sammeln, an dem sie gesehen und gehört werden, sodass sie ihre Ressourcen wieder aktivieren können. Die Schwelle, über das eigene psychische Befinden nachzudenken, sich dazu zu offenbaren, Hilfe oder Gesprächsbedarf anzumelden und vieles mehr scheint inzwischen deutlich niedriger geworden zu sein, was uns sehr freut. Die intendierte Unterstützung durch das Mental-Health-Team hat in der Schülerschaft die Sensibilität für psychische Gesundheit und den Wert der Selbstfürsorge wachsen lassen. Genau an dieser Stelle unterstützt unser Angebot die inhaltliche Arbeit unserer Schule und stärkt das Vertrauen in zu meisternde Entwicklungsprozesse.

Was ist die Bilanz nach zwei Jahren?
Die Schüler*innen nehmen dieses vertrauliche, kostenfreie und individuelle Angebot in allen Ausbildungsgängen sehr gut an. Manchen genügt ein Gespräch, andere kommen eine begrenzte Zeit lang regelmäßig oder nehmen, von uns ermutigt, weitere Hilfen in Anspruch. Die Schüler*innen und Studierenden kommen mit ganz unterschiedlichen Anliegen zu uns. Daher ist für sie auch wichtig zu wissen, dass wir der Schweigepflicht unterliegen. Das Feedback ist positiv und wir haben aus Rückmeldungen den Eindruck, dass viele Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen dankbar dafür sind, dass wir diese schnelle Hilfe in psychisch schwierigen Situationen anbieten. Deshalb freuen wir uns, einen kleinen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, der nachhaltig das zugewandte Klima unserer Schule stärkt.

Das Interview führte Charlotte Biermann,
Pressesprecherin

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